TRANS-LITSCALG Vll, 2 (1998): 59-64.
Society for Contemporary American Literature in German

BERICHTE

Z W E I   L E S U N G E N:                   Deutsch-amerikanische Autoren kommen zu Wort

     Dass deutsch-amerikanische Literatur ein ebenso vielseitiges wie vieldiskutiertes kulturelles Phänomen ist, hat sich in letzter Zeit in zahlreichen Publikationen und Veranstaltungen bestätigt. Dabei scheint sich das Konzept durchzusetzen, dass deutsch-amerikanische Literatur nicht so sehr nach Gesichtspunkten der Form und Sprachzugehörigkeit definiert wird, sondern nach thematischen Kriterien. Die Frage, ob ein(e) Autor(in) auf deutsch oder englisch schreibt, steht offenbar nicht so sehr im Vordergrund wie die nach ethnischen, soziologischen, ideologischen Gesichtspunkten vollzogene Themen- bzw. Stoffwahl. Von den verschiedenen Lesungen des Jahres 1998 seien zwei erwähnt, die von Autoren bestritten wurden, die in Amerika leben und sich durchaus als Deutsch-Amerikaner verstehen, die aber nicht unbedingt und ausschliesslich auf deutsch schreiben. Im Gegenteil: die meisten Lesungsbeiträge waren auf englisch.

     Die Society for German-American Studies, deren Vorsitzender Dr. Don H. Tolzmann von der University of Cincinnati, hatte für ihre Jahrestagung in Indianapolis vom 23. bis 26. April 1998 eine Autorenlesung aufs Programm gesetzt, die dem Werk von Gert Niers, Norbert Krapf und Dolores Hornbach Whelan gewidmet war. In dieser Reihenfolge fand die Lesung am Nachmittag des 24. April im historischen, unter Denkmalschutz stehenden Deutschen Haus statt. Als Moderator fungierte Dr. Ferdinand Piedmont, Professor emeritus, Indiana University, Bloomington. Gastgeber des Symposions waren die Indiana University - Purdue University, vertreten durch Dr. Giles R. Hoyt, und das Max Kade German-American Center, vertreten durch Drs. Ruth und Eberhard Reichmann.

     Gert Niers, geboren 1943 in Dresden und seit 1971 wohnhaft in New Jersey, las aus seinem Lyrik-Prosa-Band Wortgrund noch (Vermillion: University of South Dakota Press, 1992) und aus der unveröffentlichten Sammlung "In Abwesenheit." Fahrende Themen, nahezu Leitmotive in der Lyrik von Niers sind Sprache und Zeit bzw. Erinnerung. Neben relativ kurzen Gedichten, die allerdings nichts mit Haikus oder anderen fernöstlichen Formen zu tun haben, gab er auch einige poetische Aphorismen zum besten, etwa der folgenden Art aus "In Abwesenheit":

St. Croix: die Färbung des Meeres türkis bis azur.
Wolkenschatten liegen als dunkle Flecken auf hellgrünen
Hügeln. Ein silbernes, zweimotoriges Propellerflugzeug
fliegt die verlorene Zeit ein.

oder:
Wenn das kein Gleichnis ist: die Rue des Ecrivains in
der Strassburger Altstadt - eine Einbahnstrasse.

Aus dem Band Wortgrund noch sei zur Veranschaulichung folgender Text herausgegriffen:

Ausgesetzt

Wegzeichen manchmal
im Irrgarten der Sprache,
wo man den Wald vor
Wörtern nicht sieht:
Zeilen von unbekannter Hand,
noch kenntlich
leserlich
für den Abgeschiedenen
im Dickicht fremder Zunge.

     Unter den heutigen amerikanischen Autoren verdient Norbert Krapf besondere Beachtung: es gibt wahrscheinlich keinen anderen auf englisch schreibenden Autor in den USA, der sich so intensiv und engagiert mit seiner deutschen Herkunft auseinandergesetzt hat wie dieser 1943 in Jasper, Indiana, geborene Nachfahre fränkischer Einwanderer. In seiner Rezension eines Lyrikbands von Norbert Krapf kam Eberhard Reichmann zu dem treffenden Schluss: "No doubt, Norbert Krapf is today's strongest poetic voice in search of German heritage. He celebrates the historical dimension of our very identity."(German Life, January 1995: 58).

     Zu Krapfs zahlreichen Buchveröffentlichungen gehören die Lyriksammlungen The Playfair Book of Hours (Denver, Colorado: Ally Press, 1976), Arriving on Paumanok (Port Jefferson, New York: Street Press, 1979), Lines Drawn from Dürer (St. Paul, Minnesota: Ally Press, 1981), Heartwood (Roslyn Harbor, New York: Stone House Press, 1983), Circus Songs (Point Reyes, California: Floating Island Publications, 1984), A Dream of Plum Blossoms (Lafayette, Indiana: Sparrow Press, 1985), East of New York City (Fallon, Nevada: Duck Down Press, 1986), March Songs for an English Half-Moon (Port Jefferson, New York: Street Press, 1988), Somewhere in Southern Indiana. Poems of Midwestern Origins (St. Louis, Missouri: Time Being Books, 1993), Blue-Eyed Grass. Poems of Germany (St. Louis, Missouri: Time Being Books, 1997). Als Übersetzer und Herausgeber legte er die beiden Bände Beneath the Cherry Sapling: Legends from Franconia (New York: Fordham University Press, 1988) und Shadows on the Sundial: Selected Early Poems of Rainer Maria Rilke (Northport, New York: Birnham Wood Graphics, 1990) vor. Im Rahmen seiner herausgeberischen Tätigkeit veröffentlichte er u.a. den Band Finding the Grain: Pioneer German Journals and Letters from Dubois County, Indiana (Indianapolis: Max Kade German-American Center, Indiana University, Indianapolis and Dubois County Historical Society, 1996).

     In Indianapolis las Krapf jedoch keine Lyrik, sondern gab eine Auswahl seiner Prosa-Arbeiten, und zwar "'The Sunday Before Thanksgiving" und - "The Labor Day Boxes". Der erstgenannte Text stammt aus dem gleichnamigen, 1998 bei Rain Crow Publishing in Chicago erschienenen Band, der noch einen weiteren, ähnlich strukturierten Text enthält. Der offizielle Untertitel des kleinen Werks lautet "Two Prose Memoirs," was offensichtlich auf den autobiographischen Charakter des Materials schliessen lässt. In der Tat nimmt "The Sunday Before Thanksgiving" Bezug auf die tags zuvor erfolgte Beerdigung des Vaters des Erzählers. Ort der Handlung bzw. Erinnerung ist der ländliche Süden Indianas. Eingebettet in diese Umgebung ist die persönliche Geschichte seiner Bewohner, grossenteils deutsch-amerikanischer Herkunft. Krapfs erzählerisches Unternehmen weitet sich somit zu einer deutsch-amerikanischen Dorf- und Familienchronik aus, zu einem Panorama der Erinnerung. Eine schlichte Sprache kennzeichnet die erinnerten Bilder und Bildnisse, ein ruhiger Erzählton lässt Abstand und zugleich Nähe zum Inhalt aufkommen. Man könnte auf Grund der Durchnumerierung der einzelnen Absätze "The Sunday Before 'Thanksgiving" vielleicht als eine "Kurzgeschichte in zehn Bildern" bezeichnen. Der erste Absatz lautet wie folgt:

It was the Sunday before Thanksgiving and the leaves were raked, the grass was cut, and the garden tilled. Bales of straw for mulching the vegetable garden and the flowerbeds were stacked in perfect rows in the utility shed. New asbestos shingles were nailed fast to the roof of the brick house. In a drawer of the desk at which he sat in a spare bedroom to keep records, papers were filed in manila folders labeled in typescript and arranged alphabetically: Alles in Ordnung.

      Ähnliche Stilmerkmale gelten für den zweiten Prosatext der Lesung in Indianapolis, "'The Labor Day Boxes", der Teil eines grösseren, in Arbeit befindlichen Memoirenwerks ist unter dem Titel: "The Ripest Moments: Growing up in Southern Indiana." Die ebenfalls in unprätentiöser Sprache gehaltene, anekdotenhafte Erzählung berichtet von einer für den Ort Jasper typischen volkstümlichen Tradition, die deutschen mit amerikanischem Brauch verbindet, nämlich die vor allem von Kindern gepflegte Sitte, einen abendlichen Umzug mit selbstgebastelten, kastenförmigen Laternen zu veranstalten, allerdings nicht wie in Deutschland üblich am Martinstag, am 11. November, sondern am amerikanischen Labor Day, der normalerweise den Sommer beschliesst und jeweils dem neuen Schuljahr vorausgeht...

...Eine der aufschlussreichsten Tagungen des letzten Jahres war die an der Harvard- Universität von Dr. Werner Sollors ausgerichtete Konferenz "The German-American Tradition. German-American History and Literature in the Context of American Multilingualism" (17.-19. September, 1998). Professor Sollors, Mitglied der Abteilung für amerikanische und englische Literatur, ist Herausgeber eines Bands über den multilinguistischen Aspekt der in Amerika hervorgebrachten Literatur (Multilingual America. Transnationalism, Ethnicity, and the Languages of American Literature. New York: New York University Press, 1998). Es ist daher nicht verwunderlich, dass ein akademisches Institut, das sich der amerikanischen Literatur annimmt, auch die in Amerika auf deutsch geschriebene Literatur zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung macht. Als deutsch-amerikanische Gegenwartsautoren kamen auf dieser Konferenz im Thompson Room des Barker Centers Norbert Krapf und Gert Niers zu Wort.

     Norbert Krapf las repräsentative Gedichte aus Somewhere in Southern Indiana. Poems of Midwestern Origins und Blue-Eyed Grass. Poems of Germany sowie das Gedicht "The Mandolin and the Tenor" (Privatdruck, ursprünglich in The American Scholar erschienen). Wie seine oben vorgestellte Prosa ist auch die Lyrik dieses Autors Teil eines grossangelegten literarischen Selbstfindungs- und Identifizierungsunternehmens. Somewhere in Southern Indiana präsentiert eine Familienchronik mit den Mitteln der Lyrik, eine poetische Ahnengalerie einschliesslich eines Selbstporträts, dessen Titel zum Gesamttitel des Bandes wurde. Es sind relativ lange Gedichte, die von einer Geschichte oder Episode künden, d.h. einen konkret verifizierbaren Mitteilungsinhalt haben, vorgetragen in gleichmässig ruhigem Sprachgestus, insofern erinnern diese Texte an Prosagedichte. Allerdings betreibt der Autor keine eitle Selbstbespiegelung oder selbstgefällige Nabelschau, sondern strebt eine ergreifende Perspektive an. Die deutsch-amerikanische Erfahrung wird als allgemein menschliche Erfahrung, als eine Möglichkeit unter vielen im menschlichen Tätigkeitsbereich aufgezeigt. Als Episode eines universalen Einwanderungsschicksals sei der erste Text dieses Bands (Seite 19) zitiert: The Forefather Arrives.

     Die Sammlung Blue-Eyed Grass setzt die Suche nach den Wurzeln des Stammbaums fort und stellt Erkundigungen an im Umfeld des Ausgangsorts der deutsch-amerikanischen Familiengeschichte. Der Band trägt die Widmung "For Katherine, of French Louisiana, and Elizabeth and Daniel, of Spanish Columbia," ein Hinweis nicht nur auf die gegenwärtige Familiensituation des Verfassers, sondern auch auf die Perspektive seines literarischen Engagements. Krapfs Reise in die Vergangenheit, der Autor war auch Gastdozent in Freiburg und Erlangen, führt zu Entdeckungen und neuen Fragen, zu einer kritischen Prüfung der jüngeren deutschen Vergangenheit, die lange Zeit als unbewältigt galt. Der Band schliesst mit einer Vision christlich-jüdischer Symbiose, die zwar einem Wunschdenken entspringt, doch aber auch Hoffnungsvolles ins Auge fasst.

     Den zweiten Teil der Harvard-Lesung deutsch-amerikanischer Gegenwartsliteratur bestritt Gert Niers mit einer Auswahl aus seinen bereits genannten Lyriksammlungen Wortgrund noch und "In Abwesenheit." Aufschlussreich für die Situation jedes Schreibenden mag folgende Selbstbetrachtung aus dem letztgenannten Band sein:

Fernab
von der Pseudosprache der
Schaum- und Totschlägerbanden
schnüre ich mit Bedacht
mein Wortbündel für die
weitere Wanderschaft.

     Es sei abschliessend bemerkt, dass beide Veranstaltungen, auf denen die hier vorgestellten Autoren zu Wort kamen, wissenschaftliche Konferenzen waren. Damit deutsch-amerikanische Literatur nicht zu einem Schmuck- und Beiwerk verkümmert oder zu sehr am Rande sich abspielt, wäre es sinnvoll, einmal eine Tagung abzuhalten, die ausschliesslich Lesungen und Diskussionen mit AutorInnen gewidmet ist und zusätzlich mit einer Buch- und Zeitschriftenausstellung verbunden werden könnte, um das Spektrum der in Amerika Schreibenden mit Herkunft Deutsch (direkte oder entfernte) zu dokumentieren und den gemeinsamen Austausch zu fördern. Gewiss würden die AutorInnen und die Literatur, Germanistik und Lesepublikum davon profitieren.

(Berichterstatter: Gert Niers, Point Pleasant, New Jersey)